Nehemia 5.
Die Stadtmauer um Jerusalem war noch nicht vollendet, als Nehemia auf die unglückliche Lage der ärmeren Schichten in der Bevölkerung aufmerksam gemacht wurde. Der Ackerbau war während der Zeit schwacher Besiedlung ziemlich vernachlässigt worden, und einige Rückkehrer verhielten sich außerdem so selbstsüchtig, dass Gottes Segen nicht auf ihrem Land ruhen konnte. Daher herrschte ein Mangel an Getreide.
Um Nahrungsmittel für ihre Familien zu erhalten, mussten die Armen auf Kredit und zu überhöhten Preisen einkaufen. Sie waren auch gezwungen, Geld auf Zinsen aufzunehmen, um die hohen Steuern bezahlen zu können, die ihnen von den Königen Persiens auferlegt worden waren. Zu alledem vergrößerten die Reicheren unter den Juden das Leidwesen der Ärmeren noch, indem sie deren Bedürfnisse nutzten, um sich zu bereichern.
Die Gesetze Zugunsten Der Armen
Durch Mose hatte der Herr in Israel angeordnet, jedes dritte Jahr einen zweiten Zehnten zugunsten der Armen aufzubringen (vgl. 5. Mose 14,28.29). Als weitere Vorsorge sollte der Ackerbau alle sieben Jahre ruhen. Dann lag das Land brach, und alles, was von selbst wuchs, wurde den Bedürftigen überlassen (vgl. 2. Mose 23,10.11). Treue in der Verwendung dieser Gaben für die Bedürfnisse der Armen und für andere wohltätige Zwecke hätte den Leuten die Wahrheit vom umfassenden Eigentumsrecht Gottes ins Bewusstsein gerufen. Sie hätten die Gelegenheit erkannt, Mittler des Segens zu sein. Nach Gottes Absicht sollten sich die Israeliten in Gewohnheiten üben, die die Selbstsucht ausrotten und die Größe und Vornehmheit des Charakters entwickeln würden.
Durch Mose hatte Gott die Anweisung gegeben: "Wenn du Geld verleihst an einen aus meinem Volk, an einen Armen neben dir, so sollst du an ihm nicht wie ein Wucherer handeln." (2. Mose 22,24) "Wenn du einem anderen Israeliten, deinem Bruder, Geld oder Getreide oder sonst etwas leihst, darfst du dafür keinen Zins erheben." (5. Mose 23,20 GNB) Weiter hieß es: "Gibt es jedoch Arme unter euren Landsleuten in euren Städten in dem Land, das der Herr, euer Gott, euch gibt, dann seid ihnen gegenüber nicht hartherzig und geizig. Seid vielmehr großzügig und leiht ihnen, was sie brauchen ... Dann wird euch der Herr, euer Gott, bei allem, was ihr tut, segnen. Es wird immer Arme im Land geben. Deshalb befehle ich euch, den armen und bedürftigen Israeliten gegenüber freigebig zu sein." (5. Mose 15,7.8.10.11 NLB)
Gerade gegen diese Gebote verstießen die Juden in der Zeit nach ihrer Rückkehr aus dem babylonischen Exil. Mussten die Armen Geld für die Bezahlung der Steuerschulden borgen, liehen ihnen die Reichen Geld, aber zu hohen Zinsen. Sie verpfändeten den Landbesitz der Armen, was die unglücklichen Schuldner allmählich in tiefste Armut stürzte. Viele waren sogar gezwungen, ihre Söhne und Töchter als Sklaven zu verkaufen. Es schien keine Hoffnung zu geben, ihre Lage zu verbessern, und keinen Weg, um ihre Kinder und ihren Grundbesitz zurückzukaufen. Damit bot sich ihnen keine andere Aussicht als ständig zunehmendes Elend, fortwährende Entbehrung und Knechtschaft, obwohl sie demselben Volk angehörten und Kinder desselben Bundes waren wie ihre wohlhabenden Brüder.
Nehemia Bringt Gottes Armengesetze Wieder Zur Geltung
Schließlich klagten die Leute Nehemia ihr Leid: "Und doch müssen wir unsere Kinder in die Sklaverei verkaufen. Wir haben bereits einige unserer Töchter verkauft und sind machtlos dagegen, denn unsere Felder und Weinberge gehören längst anderen." (Nehemia 5,5 NLB)
Als Nehemia die Klagen über solch grausame Unterdrückung hörte, wurde er sehr ungehalten. "Ich wurde sehr zornig, als ich von diesem himmelschreienden Unrecht erfuhr", berichtete er (Nehemia 5,6 GNB). Er erkannte, dass er entschieden für Gerechtigkeit eintreten müsste, falls es ihm gelänge, die bedrückenden und erpresserischen Gewohnheiten zu durchbrechen. Mit der ihm eigenen Tatkraft und Entschlossenheit ging er ans Werk, um seinen Brüdern Erleichterung zu verschaffen.
Die Tatsache, dass die Unterdrücker reiche Leute waren, auf deren Unterstützung Nehemia beim Wiederaufbau angewiesen war, beeindruckte ihn keinen Augenblick. Scharf tadelte er die vornehmen Bürger und Oberhäupter der Stadt. Nachdem er eine große Volksversammlung einberufen hatte, stellte er ihnen die Forderungen Gottes dar, die in diesem Fall galten.
Er verwies dabei auf Ereignisse, die vormals unter der Regierung von König Ahas geschehen waren, und wiederholte die Botschaft, die Gott zu jener Zeit Israel übermittelt hatte, um dessen Grausamkeit und Unterdrückung zu tadeln. Die Juden waren damals wegen ihres Götzendienstes ihren noch abgöttischeren Brüdern im Nachbarstaat Israel ausgeliefert worden. Diese hatten ihrer Feindschaft freien Lauf gelassen und Zehntausende der Männer Judas in der Schlacht erschlagen (vgl. 2. Chronik 28,8) und sich aller Frauen und Kinder bemächtigt, um sie als Sklaven zu halten oder an die Heiden zu verkaufen.
Wegen der Sünden Judas hatte der Herr zwar nicht eingegriffen, um die Schlacht zu verhindern, doch durch den Propheten Oded hatte er die grausame Tat der Sieger gerügt: "Nun wollt ihr auch noch diese Gefangenen aus Juda und Jerusalem zu euren Sklaven und Sklavinnen machen. Habt ihr denn noch nicht genug Schuld gegen den Herrn auf euch geladen?" (2. Chronik 28,10 GNB) Oded sagte den Leuten von Israel eindringlich, dass der Zorn des Herrn gegen sie entzündet sei und ihr ungerechtes und erpresserisches Verhalten das Gericht Gottes nach sich ziehen werde. Daraufhin ließen die bewaffneten Israeliten in Gegenwart der versammelten Fürsten und des Volkes die Gefangenen samt Beute frei. Einige führende Männer aus dem Stamm Ephraim nahmen dann die Gefangenen und "gaben allen, die nicht genug anzuziehen hatten, Kleidungsstücke und Schuhe aus dem Beutegut. Sie gaben ihnen zu essen und zu trinken und versorgten die Verwundeten. Alle, die zum Gehen zu schwach waren, setzten sie auf Esel und brachten sie bis nach Jericho ... Dort waren sie nicht mehr weit von ihren Landsleuten" (2. Chronik 28,15 GNB).
Nehemia und andere hatten einige der Juden ausgelöst, die bereits an Heiden verkauft worden waren. Nun verglich er diese Vorgehensweise mit dem Verhalten jener, die um irdischen Gewinns willen ihre Brüder versklavten. "Was ihr tut, ist nicht gut!", sagte er. "Solltet ihr nicht in Ehrfurcht vor Gott leben, um zu verhindern, dass wir unseren Feinden zum Gespött werden?" (Nehemia 5,9 NLB)
Nehemia zeigte ihnen, dass er selbst für seinen persönlichen Nutzen große Abgaben hätte fordern können, da er vom persischen König mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet worden war. Doch er habe nicht einmal das genommen, was ihm rechtmäßig zustand, sondern großzügig gegeben, um den Armen in ihrer Not zu helfen. Er drängte jene jüdischen Leiter, die sich des Wuchers schuldig gemacht hatten, dazu, ihr frevelhaftes Tun zu unterlassen, das Land sowie den zu Unrecht erworbenen Gewinn den Armen zurückzugeben und ihnen ohne Sicherheit und Zinsen Darlehen zu gewähren.
Diese Worte wurden in Gegenwart der ganzen Versammlung gesprochen. Hätten sich die Angesprochenen rechtfertigen wollen, hätten sie dazu die Gelegenheit gehabt. Doch sie brachten keine Entschuldigung vor. "Wir wollen es zurückgeben", erklärten sie, "und wollen nichts von ihnen fordern und wollen tun, wie du gesagt hast." Da nahm Nehemia in Anwesenheit der Priester "einen Eid von ihnen, dass sie so tun sollten ... Und die ganze Gemeinde sprach: ›Amen!‹ und lobte den Herrn. Und das Volk tat so" (Nehemia 5,12.13).
Das Übel Der Habgier
Dieser Bericht veranschaulicht eine wichtige Lehre: "Alles Böse wächst aus der Habgier." (1. Timotheus 6,10a Hfa) Unsere Zeit ist von der Leidenschaft nach Gewinn geprägt. Reichtum wird oft durch Betrügereien erworben. Eine Vielzahl von Menschen kämpft mit der Armut. Sie sind gezwungen, für niedrige Löhne zu schuften, und können sich nicht einmal das Lebensnotwendige leisten. Ihre Mühen und Entbehrungen - ohne Hoffnung auf Besserung - erschweren ihre Bürde. Verhärmt und unterdrückt wissen sie nicht, wo sie sich um Hilfe hinwenden sollen. Und all dies geschieht, damit sich die Reichen ihre verschwenderische Lebensweise leisten können oder noch mehr Güter ansammeln.
Die Geldgier und der Hang zur Zurschaustellung haben diese Welt zu einer Räuberhöhle gemacht. Die Bibel schildert die Habgier und Unterdrückung, die unmittelbar vor der Wiederkunft von Christus herrschen werden, mit den Worten: "Nun zu euch, ihr Reichen! Weint und jammert über das Elend, das euch am Tag erwartet, an dem Gott Gericht hält! Eure Reichtümer werden dann verfault sein ... und eure Schätze verrostet. Und dieser Rost wird euch anklagen ... Ihr habt in den letzten Tagen der Welt Reichtümer angehäuft. Ihr habt den Leuten, die auf euren Feldern gearbeitet und eure Ernte eingebracht haben, den verdienten Lohn vorenthalten. Das schreit zum Himmel! Ihre Klage ist bis zu den Ohren des Herrn, des Herrschers der Welt, gedrungen. Euer Leben auf der Erde war mit Luxus und Vergnügen ausgefüllt. Während der Schlachttag schon vor der Tür stand, habt ihr euch noch gemästet. Ihr habt den Schuldlosen verurteilt und umgebracht, der sich nicht gegen euch gewehrt hat!." (Jakobus 5,1-6 GNB)
Habgier Unter Christen
Selbst unter denen, die bekennen, mit Ehrfurcht vor Gott zu leben, gibt es einige, die immer wieder so handeln wie damals die Vornehmen Israels. Weil es in ihrer Macht liegt, fordern sie mehr, als angemessen ist, und werden so zu Ausbeutern. Weil Habgier und Betrug im Leben derer zu beobachten sind, die den christlichen Namen tragen, und weil die Gemeinde die Namen derer in ihren Mitgliederlisten stehen lässt, die ihren Besitz durch Ungerechtigkeit erworben haben, wird das Christentum verachtet. Verschwendungssucht, Übervorteilung und Ausbeutung zerstören den Glauben vieler und richten ihr geistliches Leben zugrunde. Die Gemeinde ist in hohem Maß für die Sünden ihrer Glieder verantwortlich und heißt solch böses Treiben gut, wenn sie nicht ihre Stimme dagegen erhebt.
Die Gewohnheiten der Welt sind für einen Christen kein Maßstab. Er soll ihr rücksichtsloses Handeln, ihre Übervorteilung und Ausbeutung nicht nachahmen. Jede unrechte Handlung gegenüber einem Mitmenschen verletzt die goldene Regel von Jesus: "Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt - das ist es, was das Gesetz und die Propheten fordern." (Matthäus 7,12 GNB) Jedes Unrecht, das den Kindern Gottes angetan wird, fügt man Christus selbst in der Person seiner Nachfolger zu. Jeder Versuch, aus der Unwissenheit, der Schwachheit oder dem Missgeschick eines anderen Nutzen zu ziehen, wird im Himmel als Betrug verzeichnet. Wer wirklich Ehrfurcht vor Gott hat, würde sich eher Tag und Nacht abrackern und das Brot der Armut essen, als einer Gewinnsucht zu frönen, die Witwen und Waisen unterdrückt oder den Fremden um dessen Recht bringt.
Das kleinste Abweichen von der Redlichkeit reißt Schranken nieder und bereitet uns im Herzen darauf vor, noch größeres Unrecht zu begehen. Denn im gleichen Maß, in dem sich jemand Vorteile auf Kosten eines anderen verschafft, wird sein Herz für den Einfluss des Geistes Gottes unempfänglich. Ein Gewinn, erlangt um einen solchen Preis, ist ein furchtbarer Verlust!
Eine Gelegenheit Zum Danken
Wir waren alle Schuldner der göttlichen Gerechtigkeit, hatten aber nichts, womit wir die Schuld begleichen konnten. Aus Liebe bezahlte dann der Sohn Gottes unsere Schuld und kaufte uns frei. Der Apostel Paulus schrieb: "Obwohl er reich war, wurde er um euretwillen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen." (2. Korinther 8,9b NLB) Durch großzügige Taten für die Armen können wir beweisen, wie aufrichtig unsere Dankbarkeit für die uns erwiesene Gnade ist. Paulus fordert uns auf: "Lasst uns jede Gelegenheit nutzen, allen Menschen Gutes zu tun, besonders aber unseren Brüdern und Schwestern im Glauben." (Galater 6,10 NLB) Damit bestätigte er die Worte von Jesus: "Die Armen werdet ihr immer bei euch haben. Ihr könnt ihnen helfen, wann immer ihr wollt." (Markus 14,7 NLB)